Samstag, 27. Juni 2009


Tunguska

Eine Rekonstruktion, eine Sonde ins Zentrum der
Zerstörung und dessen – des Zentrums – Mittäterschaft,
dieser Verdacht, den das Zentrum nicht los wird, trotz aller
Betroffenheit: Jedes in eine Bewegung zwingbare Teil muß den
ungeheuerlichen Befehl verstanden und augenblicklich –
ohne, daß ein einziges Auge es sah – befolgt haben: diesen
magnetischen, mit den Trompeten von Jericho – so wird es
gewesen sein – angekündigten Befehl, der sich selbst so
lautlos verkündete. Aber die Kraft, die Vehemenz, die
unerklärliche Dunkelheit und Helligkeit des Befehls zog etwas
Bestätigendes, stumm Bejahendes aus der Dunkelheit der Taiga,
aus der Helligkeit, dem kalten Pfeifen der Steppe, den Trompeten.
Und dann warf sich alles nieder. Alles in die eine Richtung,
es gehorchte dem Befehl. Und im Zentrum
weist nichts darauf hin,
daß es das Zentrum
je gab.

© Thomas Krüger, Juni 2009

Dienstag, 23. Juni 2009


Welcher Gedanke

Welcher Gedanke steckte dahinter?
Moränen und Ringwälle? Ich denke –
das zählt nun nicht als Gedanke – ich denke,
Moränen schuf ein tieferer Winter,

ein Epizentrum bezwingender Kraft,
ein Gedanke, der zurückgezogen,
vorbei, bezwungen, längst verflogen,
als Nullpunkt noch kommende Fälle schafft.

Wälle sind Tropfenfolgen, gefrorenes
Zählen in diesem Hintergedanken,
Vorstoß im Rückzug – Verlorenes

im Rückzug des Vorstoßes. Wälle sind –
auch dieses zählt nicht als Gedanke –
Irrkreise im größeren Labyrinth.

© Thomas Krüger, Juni 2009

Montag, 1. Juni 2009


Carmina

I

Liegt im Krokus-Idyll ne Dose? Kölschglas-
groß? Ein häßliches blau-rot-silbergraues
Ding? Zerdrücktes Testat der letzten Nacht, die
schneller endete als der Rausch der Helden?
Gestern tobte das Spiel, die Blüten standen
gelblich, bläulich und stramm in schönen Beeten:
leuchtend Krokus an Krokus nah dem Parkweg.
Dann Gesänge, und nach und nach verblieb die
Stille betenden Mädchen bloß und Alten.
Grölend gestern aus feuchten Kehlen viele
Glatzen, schwitzend erblüht. Sie standen schwankend,
großen Blumen auf Stiefel-Stielen gleich am
Parkweg, ließen es laufen – gestern: lange.
Dann das Nachspiel: der Tag ergab sich kläglich.
Nacht erwachte und manche Glatze über-
gab sich: füllte mit rötlich-brauner Pampe
flugs in Beeten so manchen zarten Kelch. Ach:
Schön ist anders. Doch einen, scheint es, zogs im
Dämmern dämmernd ins Licht und nicht ins Koma.
Einer – nosce te ipsum – griff zur Cola,
ließ es zischeln und trank Red Bull, recht gierig.
Ja, zerknittertes Blech, das mags erklären.
Heute Stille. Die trikolore Dose
traf den genius croci nah dem Parkweg:
schweigend atmet der Ort den Geist Red Bullshits.


II

Ja, die Fenster der Häuschen dieser Siedlung:
offen, alle. Die Bahnen weißer Fahnen,
Schals und Übergardinen, drücken links und
rechts von Winden gebläht wie feine Segel
fahl aus jeder Etage: Engelsflügel…

Dann ein klickender Schalter, helles Leuchten…
Nein, die finstere Siedlung schafft Enttäuschung.
Rotes Pufflicht verkehrt die weiß geblähte
Unschuldsengel-Umrahmung ins Obszöne:
grelle Schamlippenpaare, alle offen.

Leise brummen wie Pumpen, die im Dunkeln
Hüpfburgfüllung betreiben, Luftmaschinen,
ziehen Zimmergespinste strumpfbandweise
häuschenkreislauferhaltend, frühlingsflatternd
durch die Flügel so manchen Ventilators.

Manches Häuschen betreibt im Brummen bloß des
großen Noppenvibrators kleine Spiele.


III

Liebster: heute im ICE nach Frankfurt,
irrend, flatternd im feinen Großraumwagen
früh am Morgen ein junger Spatz. Er piepste
kläglich, starrte mit großen Augen lange
aus dem Fenster vom ersten Tischplatz hinterm/
vor dem Eingang/dem Ausgang rechts – strich – links des
ersten Wagens der ersten Klasse, die den
Banker mainwärts, den blassen Gerling heimwärts,
südwärds shuttelt. Der Spatz saß zitternd staunend.
Draußen: rasende Landschaft, Flugsimultik.
Drinnen: zitternde FAZs, Getränke.
Kluge Köpfe dahinter, ruckend, Augen
rollend, Schädel beweglich, Blicke über
grobpapierne, für Scheißhauszwecke bestge-
eignet börsennotierte Blätter streichend,
lauernd schneidend den hohen Rand der Werte.
Jemand scherzte: „Der Spatz vom Wallraffplatz“, dann
Götterlachen, der Spatz, in Panik flatternd,
einmal, zweimal ans Fenster knallend, rückwärts
einmal, zweimal an hohe Biere prallend,
schoß vom Tischplatz in weitem Bogen auf und
schiß auf eines der ach so hohen Tiere.
Dieses rührte sich grunzend, andre schnaufend.
Allen schmerzte des feinen Tuches Naß, das
Pech des feinen Betuchten. Alle nahmen
Paper, rollten die FAZs und machten
prügelschlagende Jagd aufs schwach und schwächer
flügelschlagende Tier. Man rief den Schaffner,
schimpfte, fluchte auf Bahn und Service, ließ den
Mann das klägliche Reststück Spatz entsorgen.
Liebster: heute im ICE im Bahnhof
Frankfurt Flughafen flog ein toter Spatz aufs
kalte Gleisbett. Ein feiner Zug geht anders.


IV

Steht mein Wagen dort rasend parkend, Scheiben
runter? Flog ein berupfter, bunter Vogel
aus der offenen – ZACK – die Macht des Schließens
kühl vollziehenden Liebessuite des Staates?
Saust ein Lover mit irren Flügelschlägen
panisch flüchtend ins brüllend stille Grüne?
Fliegen Stücke von Dylle? Unschuldsblöße?
Stille? Stille? Tatsächlich nichts als Stille?

Blinzelnd guck ich ins schrille Lidschlagflattern
scharzer, roter, vielleicht auch goldner Augen
- hochfrequentes Vibrieren, quasistill - ich
schaue schwitzend vom Detektivsitz-Hochsitz
durch das runtergedrehte Seitenfenster
meines gelben, gebrauchten VW-Polo:

Da sind Bäume mit unscheinbaren Früchten,
dicke Stämme. Im Pflaster steckend, stecken
alte, knarrende Männer drin und diese
Männerkörper von 68 tragen
Wespennester im kopfhoch hohlen Holz und
Vögel zwitschern in hohen Modem-Tönen.

Glück und Frieden verströmen altes Holz und
grüne Kronen. Es nölen unerhörte
Martinshörner. Es plumpsen Äpfel, fallen
Schüsschen. Kackende Tölen legen braune,
weiche Brezelgebilde ins Betrachten:
Lover, vögelgebildet, Blinzelwesen.
Augen dieser I-Dylle, ruhige Kugeln:
schickt IMsig den ganzen Dreck an Google.


V

Vater, Deckel- und Topfbeherrscher, Nasen-
löcherhimmel, erhebe deine Rechte
samt dem Deckel, beschnuppre Unterdeckel-
tum, das suppige Treiben glänzend grüner Viertel:
sieh das Rührende: Fette, große Augen,
blick auf niedere Tiere (niedlich, friedlich
wohnt dort Kohle in wohlbestellten Hütten),
schicke Hunden, so weiß, mit dünnen Knochen,
Sträucher, Straßenlaternen ans Gepinkel:
Großer Löffel: befiehl die trüben Wege.
Dämpfe steigen aus Ökoösen dir zur
Nase, duftend zu Kopf, du Deckelheber,
-senker, Lenker und Geist, der nie verneint. Der
Tag sei offenes Blubbern. Nachts dann senke,
Herr, den Deckel, die Scheibe auf die Welt, denn
dank bedeckelten Garens naht vielleicht der
Tag da sieht man des Deckels Menetekel.


VI

Wankt aufs Stoppelfeld dort ein echter Dichter?
Steht er? Geht er und spricht ein großes Vers-Päck?
Lobt und deutet den Kurzschnitt? Düngt das Erdreich
wortreich? Eigenen Zwergwuchs alludierend?
Nein, er hat sich verirrt und murmelt ratlos,
hofft, erkenntnisgewinnend Drescherspuren,
klug den griffigen Rillen Richtung, Weg zur
nächsten größeren Straße zu entlocken.
Gern zum Taxistand: doch die stumme Krume,
leider, leider, sie taugt nicht recht als Navi.
Echter Dichter, du stiller Subtilist und
flinker Grünfuß im Kreis von Holzpantinen:
auf dem Stoppelfeld krückt dein flaches Trippeln
weder Freunden noch Nekrophilologen
Form und Richtung, den klaren Geist von Spur vor.
Harre, warte nur, balde – kommt ein Traktor.
Hörst du drüben, am Feldrand gegenüber,
lässig bollernd den Lanz, den alten Bulldog?
Glühkopf-Dampframme, Ursus, Pampa-Stampfer!
Freu dich, Dichter: der dichte schwarze Auspuff-
wolken schnaubende Acht-Gang-Minotaurus
hilft auch Jungfrauen kraftvoll aus der Patsche.
Lass ihn pflügen – danach gewährt dir gern der
heimwärts fahrende Bauer einen Sitzplatz:
hart, bedürftiger Dichter, kalt und schaukelnd
auf dem Sitzblech zur Linken oder Rechten.
Denk nur dankbar: das wars, ihr blöden Stoppel.
Hier verirre ich mich bestimmt nicht wieder.


VII

Glückwunsch, deutsche Chemie, für diese kluge
Festsubstanzengewinnung aus dem Reich der
Emotionen: dem dunklen, trüben, vagen.
Abzuscheiden gelang zunächst dir von den
vielen dumpfen Gefühlen jene namens
religiöse. Hurra, hurra, Nobelpreis!
Weiße Pulver der Klasse wasserfreier
„Religiöse-Gefühle-Carbonate“ –
Grundsubstanzen –, sie brachten Forscherteams von
fixen Drittmittelbindern Bundesgelder.
Gelder, Forscher und Pulver zog es flugs nach
Leverkusen und Hoechst und Ludwigshafen.
Dort dann rauchende Köpfe, Kolben, Schlote.
Neusynthesen: Nitrate, Zyanide,
Benzoide, Sulfate, Seifen-Ester…
Feinste Helfer der Wirtschaft: Schmiersubstanzen.
Wahnsinn, deutsche Chemie! Seit Haber-Bosch war
nichts mehr ähnlich erfolgreich – auch im Ausland.
Außer – sorry – die deutsche Giftgastechnik.


VIII

Nutzt das Schmetterlingsflügelwerk Berlin nicht
Tonnen rissigen Reissackstoffs? Es gibt jetzt
Nachschub! Setzen doch dort die alten Säcke –
Weihnachtsmänner – nun wieder mehr auf China,
lassen platzen, was platzen kann, und kippen,
fallen: Säcke, die alten, kaufen alte
Säcke. Diese vielleicht im Sun-Yat-sen-Schnitt?
Nun, ich meine den Anzug, den einst Mao
füllte, dehnte, bevor er seinen Blaumann,
munter quakend und zwitschernd plötzlich auszog,
großen Sprunges entschwand und „platsch!“ ein Bad nahm.
Tja: geplättete Felder, Bauern hinter-
ließ der schwallende Lehrer, Schwabbler, Hüpfer.
Und den Anzug. Das Tuch des Volkes, welches
lange rumlag. Tataaa!!! Vernehmt und prüft, ihr
Weihnachtsmänner in schicken roten Mänteln
diesen guten Gedanken: Teilt den Stoff und
schneidert Säcke daraus und füllt sie, füllt sie.
Füllt und haltet als Maß den fetten Mao,
gilt der Inhalt des großen Anzugs, dieser
fette Pimmelkopp doch erneut als heilig.
Fliegt und schultert die schweren Säcke, Säcke.
Laßt es regnen und segnet, wenn sie platzen,
Land und Leute, beschenkt sie, bis die Säcke
schlaff und leer sind. Sie werden reißen, glaubt es,
war der Anzug doch mehrfach überdehnt. Drum
schenkt, solange die Säcke schenken können:
nichts als dieses vermögen Weihnachtsmänner.
Sind sie leer und zerrissen, reicht sie weiter:
Gebt dem Schmetterlingsflügelwerk Berlin das
Zeug. Sie können dort solchen Schrott verwenden.

© Thomas Krüger, Juni - November 2009

Follower