Freitag, 22. Mai 2009


Dichter gibt es nicht

Womöglich gibt es keine Dichter. Beim Joggen im
Dünnwalder Wald erkenne ichs: Die schmilzenden
Polkappen. Mitten im kühlgrundigen Pilzenden
die südlichsten Folgen. Müde Schritte, ruckend am

dünner gewordenen Gedanken, bis er abbricht,
bricht und ins Blut geht: ein schmilzendes Zuckerstück.
Wenn es Dichter nicht gibt, ist das kein Unglück.
Die Welt ist geduldig. Doch Dichter gab es auch nicht.

Womöglich gab es sie niemals. Die Gestalt
der vielen Bäume, die an Schatten sich festhält.
Die Lichter des Undichten, wieder in Schatten gestellt.

Ich jogge mich fremd in diesem Wald voller Welt,
falle keuchend an Nestern vorbei, mit Resten gefüllt.
Der Wald ist die Summe seiner feinen Pilzgeduld.

© Thomas Krüger, Mai 2009

Sonntag, 10. Mai 2009


Nighthawks

Tristan und Isolde saßen in der Sushi-Bar in Köln,
am Cinedom. Sie aßen nichts. Sie saßen, sahen sich. Sie
saßen links im Raum und rechts. Dazwischen, leise, lief das Band.
Dazwischen zogen Sushi-Teller Kreise, stand ein Mann, die
Frau war bleich. Darüber trug sie Lebensmittelfarben-
Kriegsbemalung. Er, der Mann, der zweite, der dort saß, genoß
ein Stäbchen Nikotin und gab ein zweites auf die Reise,
schwieg in Rauch. Sie sah und nahm. Die erste Runde ging an ihn.
Der erste Mann, der dritte dort im Strom von Fisch und Reis, be-
sah den Kreisverkehr mit einem Apfelkernchen Freude, gab
ihr Feuer. Sie bedankte sich wie toter Fisch und nahm ein
Tellerchen vom Band. Die Lücke zog den Rest wie einen Zug.
Dann schob der Mann, der schief sein weißes Kronen-Mützchen trug, ein
neues Tellerchen mit Frischzeug in das Fischzeug: plastikrot.
Das nahm der Mann, der saß und nun die Stäbchen leise brach, mit
angewandtem Schweigen, tiefer noch als Schweigen. Und er aß.
Am Schluß verschwanden beide, fischbeköstigt, frisch getrennt, im
Kino, wo sie sich in Dunkelheit verloren. Und das wars.

© Thomas Krüger, Oktober 2008

Samstag, 9. Mai 2009


Frieden

Direktionsgebäude Carbonitfabrik:
Ehem. Beamtenwohnhaus und ehem. Direktionsgebäude der
ehem. Carbonitfabrik Schlebusch. Lage des Gebäudes auf dem
Gelände der ehemaligen Sprengstoffabrik Carbonit AG.
Heute befindet sich hier eine Gaststätte.

Phaeton ruhet allhier, der des Vaters Wagen gelenket;
Zwar nicht ganz ihn behauptend, erlag er doch großem Bestreben.



Oh Phöbus, oh Busfahrer: halt an der Haltestelle Mo-
zartstraße bitte mal an. Der Weg ist nicht lang. Der Bus er-
fuhr sich im Bogen der Saarstraße, kurz hinter Tangs Restau-
rant, in Schaufenstern, links, des Blumengeschäftes von Nasser,
von Barmscheidts Konditorei und Radio Jaro, ein Wurm-
loch zu Gärten mit Tauglanz in wackligen Bildern. Der Bus
schien erschrocken, die Scheiben erzitterten, Morgenlicht rö-
tete zärtlich, linksvorn, die türlose Seite, tönte die
Schläfe des Kantengesichtes aus Mannheim in Nähern und
Fallen. Die Fenster, sie tauschten im Einfall was aus, der Ge-
lenkbus, ein Summlaut. Schwanger und schlingernd zog er davon, ver-
schwand aus den Schaufensterauslagen: Raupe, Kokon. Es griff
ein Getriebe Beton und es zischelte, hopsten verlo-
rene Liebende, kleiner als Hasen schon. Sporen. Er saus-
te um Häuser, zur Sonne. Er ließ sich von kleinen, im Hin-
terlicht liegenden Fallen, von Gärten verschlingen. Er quiet-
schte und zwitscherte, schlüpfte ins Ferne. Er bremste. Radkap-
pen klapperten hier und da in Schuppen. Hinter den linden-,
den lodengrünen Fächern lächeln die Augen der riesi-
gen Köpfe, der fächerübergreifenden Kronen. Oh Bus-
fahrer Phöbus. Ich sitze am Fensterplatz im Rückwärtsgang.
Ich spüre den Wunsch nach Ruhe im Faltenbalg. Halt mal an.

© Thomas Krüger, Mai 2009

Mittwoch, 6. Mai 2009


Matrioschka

Leuchtmutiger Virgil: der eine deiner roten Köpfe
ist doch immer erhoben. Wie das Andere immer: dein weißer
breitwandweit gespannter, negligesker, dein ein-
sichtiger Buchseitenleib; dein offenstehender Stall im
Schutz deiner feinen, von roten Kreuzen geäderten
Engelsflügel: dein Haus, dein Segelrevier, dein
spiegelverhangener Himmel, dein lederner Fledermausmantel, dein
Hängen im steilwandigen Eichenlaub, du schattensenkender Narziss und
mutiger Leuchter: Daumenkino von Kreuzigungsposen und
jedermanns Schlaf unter so vielen Lidern, feuchten
Schmetterlingsflügeln wie Rosenblättern um
Krippen im Mittelpunkt mit zarten, zerbrechlichen toten Armen:
Eierstöcken, den keuschheitsdürren blutigen Schamlippenbeinen.
Dein hängender Penis-Jesus, dein Sack voller Runen.
Du breitest die Arme aus, öffnest den
Mantel des
Mantels des
Mantels.
Dein Segel.
Dein Gastzelt.

Ich möchte nun eintreten, den Kopf mir
stoßen am niedrigen Türsturz, daß
wieder es dunkle in
Bomben-
innen-
taschen-
ordnungs-
Ochs-und-Esel-Süße.

© Thomas Krüger, April 2009


Zugwechsel

Warum…
Bert Brecht

Ein Lied will ich singen. Ich sitze im Zug, allmächtig so
vor mich hin. Die Kurve ist Deutschland zur Linken, ist Deutschland
zur Rechten. Ich sitze im Zug so 60 Minuten ver-
spätet, verpaß einen Einfall, der macht mich bedeutend, als
wär ich bei Nürnberger Rostbratwürstchen im Bistro-Waggon
ganz vorne dabei. Eins schneid ich entzwei. Ich bin ohnehin
nur ein Mann. Ich trinke und stößt auch der Zug mit mir an: ich
fürchte kein Leid. Ach, der Zug ist meist pünktlich in Deutschland. Be-
wältigt mich 60 Minuten Vergangenheit? Allmählich
nimmt meine Zukunft den Weg zur Küste auch ohne mich. Ich
seh das nicht eng. Ich punkte im Bahnhof Hannover. Der Zug
geht meist stündlich in Deutschland. Verpass ich den Einlauf des ei-
nen, so folgt doch ein anderer immer. Ich sitze im Zug,
ein Lied kann ich singen. Allmächtiger. Ich wirke zur Zeit
übernächtigt. Zur Rechten, zur Linken nur Dunkelheit. Der
Zug fährt bedächtig. Ich weiß nicht, warum. Ich weiß nicht, wohin.
Ich möchte nur schlafen. Ein nächtliches Traumbild: ich sehe
zur Rechten, zur Linken ein halb-durches Wurststückchen sinken.

© Thomas Krüger, Januar 2009


Pioneer 10

Lieber Gott, in dieser Nacht empfing ich ein Signal. Es kam
vom Darm, da draußen in der Unterleibsregion, schon jenseits
der Planetenbahnen; kam von dort, wo Fuchs und Hase wie
ein Sternbild an der schwarzen Himmelshüttentür (ein Kerzen-
kettchen um den Baum aus Anthrazit) ein Leuchten Punkt für Punkt
mit Dunkelheit verknüpfter, frisch gesetzter Einschußlöcher
durch das Dunkel senden, Thesen bildend, Kneipenfenstern gleich.
Ach Gott, ich weiß: ich hörte nicht, ich sah: dein Grummeln wie ein
Lebenszeichen, hier im Bett um kurz nach Drei. So fern, so nah.
Ein Zeichen, das ein Zeichen über Schultern rückwärts in die
Furchen, auf das Kissen warf. In dieser Nacht, in der das frisch
bezogen frisch befleckte Bett von Leben nur so knarrte,
dachte ich ans Leben, draußen, an das schwächste Glied, das an
der Kette, an der Hütte, an dem schwarzen Baumstamm hängt. Ach,
Fuchs und Hase hatten schon vor Stunden gute Nacht gesagt.
Ich knirschte mit den Zähnen, löschte all die Bilder, die ich
rief, da ich nicht schlief. Dann stand ich aus den Furchen, die ich in
das Laken drückte auf und ging und bis ins Innerste, bis
jenseits noch der letzten Schlinge der Planetenbahnen roch
es bildlich irgendwie verbrannt. Es war so dunkel, kalt, ich
hatte Durst. Da draußen glühte noch ein Licht. Das zog mich an.
Ich flog. Ich zog mich wieder aus.

© Thomas Krüger, Februar 2009


Der Koffer

Der Koffer, er liegt auf dem Feld, daß Würmer und Regen ihn
einsinken lassen, ein Stück weit, sein Schuhsohlenleder. Sie
öffnen ihn vorsichtig. Ein oder zwei, die neben ihm stehen.
Die anderen, denen der Koffer gehört, sie stehen dem anderen
Koffer doch näher, sie öffnen ihn vorsichtig, wagen den
Koffer des Anderen. Der Koffer ermöglicht uns immer die
höchste, die heiligste Form des Neben-dem-Koffer-Seins. Der
Koffer liegt schlicht auf dem Feld im Frühling von Feldern.
Ich kenne nur Felder und Koffer. Die Form: ideal. Die Koffer. Die
braunen, die anbetungswürdigen Quader aus menschlichem Schuhsohlenleder.
Der Schlamm. Die Gelände des Lehms. Illusionen, die blühenden.

Die vorsichtig Öffnenden staunen, bestaunen das Summen des
dichtest Gepackten, des Offen-Gelegten. Die Wäsche, die Waben, die
Früchte des Felds, die kunstvoll veredelt Verschachtelten.
Sie ticken wie Meisterwerke, so raffiniert.
Die Koffer sind offen mit ihren Unheilbarkeiten in höchster Form.
Nur kurz wird der Koffer geöffnet. Dann macht ihn ein neben ihm
Stehender, stumm in Vorsicht ihn Öffnender, schnell wieder zu.
Geschlossener nie als geöffnet. Der Koffer. Die vorsichtig Öffnenden
staunen. Sie sagen sich: andere Koffer, die anderen Koffer, sind
anders. Sind längst nicht so unmißverständlich, vollendet gepackt.
Wir werden doch bleiben!?

© Thomas Krüger, März 2009


Zum 100. Geburtstag


Nun hängen Flugzeuge und Engel in der Luft
Und können nicht landen.


Günter Grass

Die Flugzeuge landeten auf einem Gnadenflugzeugträger,
die Engel auf einer Baustelle, wo der Bauherr aus
frommer Laune heraus Weihwasser in seine
Zementmischer goß. Doch die Stimmen, das Lachen,
sie hängen noch immer in der Luft, als hätte die
Revolution statt Köpfen den Geist, diese
Wutvariante der Seele, vom Körper getrennt;
als hätte der Rüde keine Hütte im Mund des Herrn,
das Chamäleon keine Zunge, die seine Worte in
Glashäuser stößt und Splitter wie Hostien auf
ledriger Spitze zurück in den Mund führt;
als hätte die Zunge es SATT gehabt und – schnipp –
das Weite gesucht, mit leisem, luftigem: du kannst mich mal,
Tereu…
…und schwebte nun ziellos,
zügellos über den Wassern der Sterneländerkennenden, mit
allen Wassern Gewaschenen – hoch über dem großen polierten Glanz, wo
dann und wann und tief unter den Vogelfreien ein
Schiff vorüberfährt, auf Kurs zu den neuesten Ufern der
Sprechautomaten.
Wo dann und wann im Fenstrigen, Durchlöcherten des
trunkenen Eisenkahns dort unten ein weißes Stückchen
Taubenschiß blitzt und kleines Rammeln in seinen
selbstverständlichen Dunkelheiten meint, ein
bißchen Geist zu empfangen.
To wit!
To wit!
To woo!

© Thomas Krüger, Februar 2009


Skywalk

Nicht Erde fand sich
noch Überhimmel,
gähnender Abgrund,
und Gras nirgend.



Ein flackernder Entdeckerballon. Eine Hülle, gefüllt mit Wolkendünsten, oberhalb der City of Disney, neongrell leuchtend und nicht leuchtend, leuchtend: der Weg hinauf und der Weg hinab. Der Ring an sich, mit vermutetem innerem Zielkreuz, mutatis mutandis, leuchtend und nicht leuchtend, leuchtend; umgeben von konzentrischen, nach außen, nach innen, nach außen gleitenden, la-ola-schnellen Schockwellen von Feuerschein; von offenen, geschlossenen, offenen Maulwurfsaugen in gläserner Balance am geschichteten Hang dieser doppelten Cavea, des gigantischen Trichters, besetzt mit zahllosen quadratischen Kragsteinen: halb die Standflächen staunenden, kämpfenden, staunenden Publikums – sedimentierende, den Sand der gemeinsamen Gedanken zur Erdmitte, zum Schließmuskel, zum inneren Ring mit dem allerkleinsten gemeinsamen Zielkreuz hin verlierende; aufleuchtende, abblendende, aufleuchtende, alle Hoffnung mit höchster Geschwindigkeit fahren lassende Monaden in dichtester Mobilé- wie Mogelpackung auf all den vielen exakt zur Hälfte auf all den quadratischen Kragsteinen aufliegenden, wippenden, quadratischen Panzerglasplatten mit 2 x 16 in gleichmäßig verteilten, komplementären, kontrapunktischen, anfangs in einfache Doppelreihen angeordnete, dann sich Kriegszug um Kriegszug kunstvoll vermischende, Balance und Siegeswillen ausbalancierende Kontrahententruppen auf 2 x 32 Feldern. Vermutlich das 1 und 0 und 1 des gigantischen Organismus in seiner übergeordneten Gleichgewichtskonstante; ein immerwährendes Pferdekopfpumpen an den Hängen dieses quasiperistaltischen Canyons: zahllose wippende Quadrate, Metastasen, die gläsernen Hälften über dem Abgrund, dessen wolkendunstiger Luftraum von flimmernder Trichterwand zu Trichterwand mit irrlichternem Wellenwurf auf Würfelwurf zu entzaubernde Kontinente versteckt und Engel und Engel durch seinen Schlundkanal hindurchfallen lässt wie Feuerkugeln, Bomben und mächtige Kometensplitter: Ablenkungen, Testwürfe in den Brunnen der vielen Ringe von Tanzschritten auf Panzerglas: kunstvolle Verschiebungen, Stellungswechsel unter den Figuranten der Menuette, den Kontrahenten, den nackten, gefiederten, von Mickymausmaskenschweiß schimmernden Waldfiguren: nach unten, in den Abgrund, in den Auftrieb hineinwippend; den glänzenden, goldbeschichteten, musikinstrumentenen Raumfahrern mit hochfederndem Kampfgewicht, die gummisohlenen Kräfte des Konsolaren aus dem rotsedimentenen Kragstein aufgehoben im Stahlraum-Helm, gen Himmel stichelnd: Bewegungen, Berührungen, Truppenverschiebungen im permutierenden Gleichgewicht. Und dann und wann erzittert ein wippendes Panzerglasquadrat mit seinen winzigen Kriegsschauspielern, denen, wie immer, auf immer, der Tritt aus der sauberen, quadratischen, zweidimensionalen Ringfläche hinaus unmöglich bleibt: es scheppert komplett wie ein silhouettensattes Tablett aus Kristall mit vollen Gläsern und Flaschen in den Abgrund saust, zu sphärischer Musik: ein Tropfen, der irgendwo niedergeht zwischen Bulls Eye und Außenring, Cocytus und Limbus, und einen Lichtreflex-Code in Gang setzt, ein gigantisches rotamintenes Flackern: Ah und Oh und Ah. Doch jede der abgestürzten Plattenbaubrigaden entsteht, als ginge es um Höllenqualen, fortwährend neu und stürzt wieder ab und entsteht neu und stürzt. Jeder der falschen Züge begründet sich erneut, und das Mobile des äußeren Lebens, das fischertechnische Gefüge der vielen Bühnen in der Trichterwand, die leuchtenden Lampions der winzigen, wippenden Panzerglasplatten verhält sich in seinem dunstigen, blitzenden, flackernden Terrarium, in seinem Miller-Ballon wie das ewige Leben mit unaufhörlichen Kurzschlüssen und Feuersbrünsten, wie kleinere Schlaganfälle im großen, im polylabilen Ganzen, Glieder in Kettenreaktionen. Alles ist mit allem verbunden und jeder Schritt verändert das Gleichgewicht auf unseren kleinen Balkonen an den Innenwänden des Kraters, des steinernen Tornados, des tückischen Trichters, in den die Babelsberge Bruegels wie Valckenborchs wirklich gut reinpassen.

© Thomas Krüger, Februar 2009

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